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Jüdisches Leben in Ostercappeln

Die jüdische Familie Juius Stern 1920 in Ostercappeln. Nur zwei Personen starben eines natürlichen Todes. Alle anderen wurden Opfer des Holocausts.

 

Die geplante, systematische Ausrottung von fast sechs Millionen Juden in Mitteleuropa in Verantwortung des deutschen Nationalsozialismus, ein Völkermord, steht als tatsächliches Verbrechen fest und wird im Judentum und in Israel Schoah, allgemein Holocaust genannt und deren Leugnung in deutschsprachigen Ländern als Strafbestand gewertet.

 

Der schreckliche Ablauf der Geschichte zwischen 1933 und 1945 in Deutschland hat auch in Ostercappeln Spuren hinterlassen.

Ihnen hier zu folgen ist keine leichte Aufgabe, heißt für uns Menschen der Gegenwart nach über siebzig Jahren seit Ende des Holocaust auf Begebenheiten zu treffen, die bisher auf den ersten Blick unwiderruflich verloren zu sein scheinen. Das Aufdecken dieses Geschichtsablaufes in unserer Region zeigt nicht nur, zu welchen Untaten Menschen fähig sein können, sondern soll auch ein Denken zur Erkenntnis anstoßen, damit solches menschliche Versagen sich nicht wiederholen darf.

 

Zu sagen, wie hätte ich mich verhalten in der Zeit der Verbrechen des Nationalsozialismus, liegt zwar nahe, relativiert aber das damalige Geschehen. So sind uns Kenntnisse über die Verbrechen der Täter und über das Leiden der Opfer auch in der Gegenwart wichtig, wobei Namen noch einmal auftauchen können und sollen, ehe sie endgültig vergessen werden. Noch lebende Täter und ihre Opfer sind kaum noch erreichbar. Trotzdem lasten immer noch eine erste und zweite Schuld schwer auf uns Deutschen.

 

Die erste Schuld ergibt sich aus den Verbrechen der Täter bis Mai 1945. Eine zweite Schuld finden wir bei denen, die als Täter später mehr oder weniger unerkannt in der Bonner Republik gelebt und sogar leitende Positionen in der Gesellschaft eingenommen haben, aber ebenso bei denen, die darüber wussten, das Böse zugelassen und überhaupt geschwiegen haben.

 

Unsere und nachfolgende Generationen müssen sich immer wieder über das damalige Geschehen informieren, es in einer Erinnerungskultur bewahren, darüber reden und Lehren aus der Geschichte ziehen, um einer erneuten Schuld zu entgehen. Das gilt genauso für die Ortsgeschichte, auch für Ostercappeln. Tatsache bleibt, dass jüdisches Leben in unserm Dorf seit über siebzig Jahren erloschen ist, Spuren dennoch nachzuweisen sind, dass aber auch heute noch Juden leben, deren Vorfahren ehemals angesehene Bürger Ostercappelns waren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion können auch wieder Juden aus dem Osten Wohnung und neue Heimat in unserm Dorf finden oder sogar bereits gefunden haben.

 

Wir wollen nicht die Geschichte der ehemaligen Ostercappelner Juden in Unwissenheit oder in Verdrängen aussitzen, sondern ihren spärlichen Spuren folgen! Immer wieder gibt es noch Unbekanntes zu entdecken und schon Bekanntes neu zu hinterfragen. Trotzdem ist uns bewusst, dass aufgeklärte jüdischen Mitbürger keineswegs sich nur aus Sicht des vergangenen Leids sehen wollen, sondern sich als aufgeschlossene Bürger unseres Landes geben, sich als Deutsche fühlen, so wie einst die Juden in Ostercappeln in den sogenannten „Goldenen Zwanziger“. Mit diesem Bericht soll versucht werden, für die Gemeinde Ostercappeln das schlimme Geschehen in der NS-Zeit transparent zu machen, umso der Last auf Dauer einer dritten Schuld zu entgehen und um möglichst viele Personen und Ereignisse als Vorgänge der Lokalgeschichte festzuschreiben.

 

Tatsache bleibt, dass jüdisches Leben in unserem Dorf erloschen ist, seine Spuren aber noch nachzuweisen sind. Wir wollen diese Geschichte nicht aussitzen, sondern folgen wir ihnen! Oft gibt es wieder Unbekanntes zu entdecken und Bekanntes neu zu hinterfragen.

Zweifelsohne wissen wir aber auch, dass unsere aufgeklärten jüdischen Mitbürger der Gegenwart keineswegs sich nur im Licht des vergangenen Leids zeigen wollen, sondern sich als aufgeschlossene und mündige Bürger Deutschlands sehen; vielleicht so wie Juden in Ostercappeln, beispielsweise in den sogenannten „Goldenen Zwanziger“.

 

In Ostercappeln gab es drei große jüdische Familien: Grünberg, Meyer und Stern, über deren Leben, Wirken und auch Leiden wir ab Anfang des 19. Jahrhunderts Berichte in den Archiven finden können. Im Weichbild des nahen Pr. Oldendorf ist eine jüdische Besiedlung bereits um das Jahr 1670 beschrieben. Verbrieft ist unter anderem ein Gesuch von Levi Abraham Löwenstein aus diesem ostwestfälischen Städtchen und Moses Meyer aus Rabber zur Verlegung des Lintorfer Marktes wegen jüdischer Feiertage. Am 11. 9. 1815 wurde dieser Antrag vom Amt Wittlage genehmigt. Seit 1808 durften Juden im ehemaligen Fürstbistum Osnabrück offiziell wohnen und ihrem Gewerbe nachgehen. Levi Stern kam 1809 nach Ostercappeln, der erste noch heute hier namentlich nachweisbare Jude.

 

In statistischen Quellen aus der Zeit der sogenannten französischen Fremdherrschaft finden wir bei Stüve in den Bevölkerungslisten für das Arrondissement Osnabrück von 1807 bis 1812 in der Mairie Ostercappeln fünf Juden. Zum Vergleich wurden in Osnabrück einundzwanzig, aber in Gesmold fünfundzwanzig und in Borgholzhausen sogar sechsundfünfzig Juden im gleichen Zeitraum gezählt. Bei einer Volkszählung durch den 1885 gegründeten Kreis Wittlage waren am 2. Dezember 1895 in Bohmte ein Jude, in Hüsede drei, in Rabber die Familien Jacob, Alfred und Rosa Weinberg, Wilhelm und Else Wolff sowie die später nach Ostercappeln verzogene Familie Meyer mit neun Personen und in Ostercappeln fünfundzwanzig Juden aus den oben angeführten Familien gemeldet. 1910 lebte in Meyerhöfen ein Jude, in Rabber sieben und in Ostercappeln fünfzehn jüdische Mitbürger. Die Ergebnisse dieser Zählungen sind auf dem ersten Blick erstaunlich, wenn wir auf die Geschichte der Juden in Osnabrück und seinem Umland schauen.

 

Geschichtliche Tatsache ist, dass in unserer Region durch die Macht der Kirchen, die Unerbittlichkeit des Handwerks und die Verachtung der Bürgerschaft im Zeitraum von etwa 1400 bis 1800 keine Juden sesshaft werden konnten. Besonders Stadt und Fürstbistum Osnabrück machten sich durch ihre unnachgiebige Haltung gegenüber dieser Religionsgemeinschaft einen unrühmlichen Namen. Was 1424 der Osnabrücker Bischof Johann III. erließ, das galt fast 400 Jahre für Klerus und Gläubige, für Rat und Bürger: „Auch sollen Wir und unsere Nachfolger die Stadt Osnabrück mit den Juden unbelastet lassen, also dass innerhalb der Stadt und Feldmark zu Osnabrück auf Grund Unserer Macht und Unseres Gebotes niemals hier Juden hier wohnen sollen Gegeben im Jahre 1424 am 20. Oktober.“

 

Im Staatsarchiv Osnabrück findet sich in einem Buch der Landdrostei Osnabrück ein Artikel: „Bestimmung des Dienstverhältnisses des Vogts zu Ostercappeln zu den Vorstehern und Einwohnern des Weichbilds Ostercappeln, auch hinsichtlich der Handhabung der Polizei“. Dort heißt es: „Mandat gegen die Betteljuden, polnische Juden und Vagabunden aus dem Jahr 1770“. Nicht unbedingt nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, sondern erst 1807 mit der Eingliederung unserer Region in den französischen Satelittenstaat „Königreich Westfalen“ konnten Juden hier wieder mühsam Fuß fassen. Aber nach der Niederlage Napoleons und die Errichtung des Königreiches Hannover blieben weiter Einschränkungen für Juden nicht aus, wurden sogar im Osnabrücker Land verschärft.

 

Ab 1. November 1867 wurde die Emanzipation der Juden im Bereich des Norddeutschen Reichstages allgemein. Doch die jüdische Gemeinde blieb in unserem Raum klein, ja, man wünschte sich sogar ihr Aussterben. Ein Verhalten, das dazu führte, dass für das Jahr 1864 nur sieben israelitische Gemeinschaften in Osnabrück gezählt wurden und nach Dr. Ludwig Hoffmeyers Chronik der Stadt Osnabrück „einige unbemittelte Juden“ aus Ostercappeln der Synagoge angeschlossen wurden. Dieses Gotteshaus stand zunächst armselig in der Bierstraße, ab 1872 schlicht am Barfüßerkloster Nr. 6/7 und ab 1906 eindrucksvoll in der Rolandstraße.  Die geringe Seelenzahl der jüdischen Gemeinde Osnabrück Mitte des 19. Jahrhunderts – es gab zu dieser Zeit im ganzen Landdrosteibezirk Osnabrück rund hundert zwanzig jüdische Familien – ließ einen eigenen Rabinatbezirk in dieser Stadt nicht zu. So berichtet auch Karl Kühling, dass deshalb die Osnabrücker Synagogengemeinde durch die in Ostercappeln und Iburg wohnenden Juden aufgefüllt werden musste. 1905 hatte die israelitische Gemeinde mit 474 Mitgliedern den Höhepunkt ihrer Geschichte.

 

Heute wissen wir, dass die Ostercappelner Juden keineswegs mittellos waren, gar den sogenannten Betteljuden angehörten. So hat zum Beispiel die aus Rabber stammende Familie Meyer das Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert gegenüber der Vikarie um 1850 in Ostercappeln gekauft und sich darin eingerichtet. Auch ein Feld an der Bremer Straße wurde von ihnen bewirtschaftet. 1908 hieß der Schützenkönig in Ostercappeln Albert Stern. Die Juden aus Rabber (heute Bad Essen) nutzten zusammen mit den Juden aus Buer und Melle einen wunderschön gelegenen Friedhof nahe der Straße von Barkhausen (heute Ortsteil von Bad Essen) nach Buer.

Die Familien Meyer, Grünberg und Stern aus Ostercappeln gehörten später der Synagogengemeinde Osnabrück an und hatten ihre Grabstätte auf dem Jüdischen Friedhof an der Magdalenenstraße in der Osnabrücker Neustadt, zwischen der Iburger- und Sutthauser Straße.

 

Am 30. März 1896 teilt der Ostercappelner Bürgermeister dem Landrat mit, dass eine Mitbenutzung des Friedhofs zu Ostercappeln durch die dortigen jüdischen Familien mit Hinweis auf die jüdische Religionsvorschrift zum Verbot der Beerdigung von Juden neben Christen nicht möglich sei.

 

Das Kanonische Recht untersagte Christen, Geld gegen Zinsen zu verleihen. Durch dieses Recht wurden die in christlichen Ländern wohnenden Juden in Geldgeschäfte hineingedrängt, für sie eine Lebensart, zumal die Zünfte den Juden gerade Handwerksberufe nicht gestatteten. Neben Finanzgeschäften war den jüdischen Mitbürgern nur noch Handel, besonders mit Vieh, verbunden mit Tierschlachtung und Fleischverkauf in den deutschen Landen möglich. So erstaunt es nicht, dass im Grunde fast alle jüdischen Mitbürger in Ostercappeln im Vieh- und Pferdehandel tätig waren. Dies wird auch unterstrichen, da gerade in Ostercappeln rund um die St. Lambertus Kirche nach der napoleonischen Besatzungszeit bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges sich reges Geschäftsleben entwickelte. Kirmes und der Handel mit Leinen, die „Legge“, geben dafür ein Zeugnis ab. Damals hatte Ostercappeln Möglichkeiten, sich vom Flecken zu einem Oberzentrum zu steigern. Urbane Bausubstanz ist heute noch mit der St. Lambertuskirche sowie Häusern am Kirchplatz und der Großen Straße nachweisbar. Es waren schließlich die Weltkriege, die eine solche Entwicklung zur Stadt nicht zuließen.

 

Den sehr ausführlichen Untersuchungen von Peter Junk und Martina Sellmeyer in ihrem Gedenkbuch: “Stationen auf dem Weg nach Auschwitz, Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900-1945“, herausgegeben von der Stadt Osnabrück im Rasch Verlag Bramsche, verdanken wir neben Zeitzeugen und dem Archiv der Gemeinde Ostercappeln Kenntnisse auch über das Schicksal der Ostercappelner Juden.

 

Bis in die 30er Jahre gab es in Ostercappeln zwar nicht amtlich, aber im Volksmund einen „Juden Weg“. Er war identisch mit der heutigen Alten Bergstraße und verlief vor dem Ersten Weltkrieg als Feldweg zu den Äckern und Wiesen am Südhang des Kapellenberges hinauf zum Hof Seeger. An seiner Mündung in die Straße nach Venne stand bis in die zwanziger Jahre das Fachwerkhaus der Orgelbauerfamilie Haupt. (6.) Offizielle Straßennamen in Ostercappeln gab es erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis dahin wurden die Häuser nach ihrem Entstehen nummeriert. Dass ausgerechnet dort im Volksmund von einer „Judenstraße“ oder einem „Juden Weg“ gesprochen wurde, kann heute nur so Erklärung finden, weil hier die jüdischen Vieh- und Pferdehändler ihre Kühe und Pferde auf die Weiden des Berghanges getrieben haben.

 

Die jüdischen Familien unseres Ortes wohnten im Haus Nr. 68 an der Bremer Straße gegenüber der Friedenshöhe, das 1926 abbrannte; im Haus Nr. 9 an der Großen Straße (später Häuser Rosenbusch und Mindrup gegenüber der Löwenapotheke, heute Volksbank); im Haus Nr. 19 gegenüber der Vikarie, um 1980 abgebrochen, und in zwei Häusern an der Bahnhofstrasse 31 (heute Grammann), schräg gegenüber der Reichspost und unterhalb der Windthorstbrücke (Herringhausen Nr. 107, heute Bahnhofstr. 11, Wolff). Auch in weiteren Bürgerhäusern in der Ortsmitte lebten Juden, wie beispielsweise im Haus Knollmeyer und in der Löwenapotheke. Namentlich sind besonders die Familien Hugo Meyer und Sara Meyer, Josef Meyer, Moritz Meyer, Sigmund, Leo und Julius Stern, Abraham und Josef Grünberg und Rosa Heumann bekannt. (6.)

 

Die größeren Familien Meyer und Stern lebten insbesondere vom Viehverkauf, hauptsächlich auch vom Pferdehandel.

Neben dem Haus Nr. 19, gegenüber der Alten Vikarie, stand ein Stall mit zwei Zugängen und darinnen eine Waage. „Auf dieser stand manches Rindvieh“, hieß es im Dorf. Die Ostercappelner sprachen früher, wohl von der Haartracht ausgehend, vom schwarzen (Moritz Meyer, gestorben 1920), vom roten (Sigmund Stern) und vom weißen Juden (Josef Meyer). Dies hatte sicher nichts zu tun mit dem „Nazijargon“, intellektuelle Juden wie Heisenberg, Einstein und andere als „Weiße Juden“ zu bezeichnen und auch nicht mit Juden, die Mischehen mit Christen eingegangen waren.

 

Junge jüdische Frauen waren als Angestellte in jüdischen Geschäften in Osnabrück oder in Haushalten der Umgebung tätig. Natürlich unterhielten sich Juden und Christen im „Ostercappelner Platt“; das wissen wir von Sarah Meyer, geb. Hecht, die in einem Brief aus dem Exil Südafrika 1947 sich bei der Verständigung mit dem einheimischen Hauspersonal gerade auf dieses Plattdeutsch berief.

Bei den Nachforschungen über die Ostercappelner Juden ergeben sich folgende Schwierigkeiten und Besonderheiten:

  1. Der Familienname Meyer, auch die Namen Grünberg und Stern finden sich häufig unter Jüdischen Familien
  2. Kinderreiche jüdische Familien in Ostercappeln
  3. Namensgleichheit bei den Vornamen und deren Schreibweise.(z.B. Frieda, Frida, Sarah, Sara usw.)
  4. Häufiger Wohnortwechsel
  5. Grenzveränderungen zwischen Bohmte, Herringhausen und Ostercappeln
  6. Problem mit den Zwangsmittelnamen Sara bzw. Israel. (Zur besseren Erkennung von Juden mussten ab Januar 1939 bei Gesuchen, amtlichen Schreiben usw. männliche Juden `Israel´, weibliche `Sara´ zwischen Vor- und Nachnamen laut dem im Wesentlichen von Hans Globke verfassten Reichsbürgergesetz zwangsweise mit anführen; Staatssekretär Globke war bis 1963 Chef im Bundeskanzleramt der Bundesrepublik Deutschland unter Konrad Adenauer. Seine Personalie gilt als krasses Beispiel, dass es in Deutschland nach dem 8. Mai 1945 nie „Die Stunde null“ gegeben hat).
  7. Das hohe Alter der Zeitzeugen und deren Ängste, selbst in schuldhaftes Verhalten erwickelt zu werden.
  8. Die Vernichtung historischer Bausubstanz im Ortsteil Ostercappeln
  9. Im Archiv des Standesamtes nur noch Geburten und Hochzeiten, jedoch keine Sterbefälle oder Umzüge in andere Orte mehr nachweisbar
  10. Immer noch Schweigen vieler Zeitzeugen